BGH zur Anwendbarkeit angelsächsischen Erbrechts in Deutschland
Das englische Erbrecht kann auf Sachverhalte mit hinreichend starkem Inlandsbezug in Deutschland nicht angewendet werden, soweit dies zum Ausschluss eines bedarfsunabhängigen Pflichtteilsanspruchs eines Kindes führen würde.
In einer grundlegenden Entscheidung hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) im September 2022 mit den Voraussetzungen der Anwendbarkeit ausländischen Erbrechts in Deutschland unter Beachtung des „ordre public“, also der grundsätzlichen Werteentscheidungen des deutschen Rechts befasst. Danach ist ein bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch eines Kindes unverzichtbarer Bestandteil des deutschen erbrechtlichen Wertesystems.
Adoption unter Ausschluss von Erb- und Pflichtteilsrechten
Gegenstand des vom BGH entschiedenen Rechtsstreits war die Klage des Adoptivsohns eines im Jahr 1936 geborenen und im April 2018 verstorbenen britischen Staatsangehörigen. Im Jahre 1975 hatte der Erblasser den zu diesem Zeitpunkt ca. 14 Monate alten Kläger mit notariellen Kindesannahmevertrag adoptiert. Der Annahmevertrag enthielt einen ausdrücklichen Ausschluss der Erb- und Pflichtteilsrechte des adoptierten Kindes. In der Folgezeit lebte der Erblasser unter Beibehaltung der britischen Staatsangehörigkeit bis zu seinem Tod in Deutschland.
Testamentarische Einsetzung einer Alleinerbin
Im März 2015 setzte der Erblasser die Beklagte zu seiner Alleinerbin ein und wählte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht als Teilrecht seines Heimatsstaates. Zum Nachlass gehören unter anderem eine in Deutschland befindliche Immobilie sowie diverse weitere Nachlassgegenstände. Der Kläger selbst besitzt ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit und hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
Erfolgreiche Auskunftsklage des Adoptivsohns
Mit der Klage begehrt der Adoptivsohn von der Beklagten als testamentarischer Alleinerbin Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses. Nach Abweisung der Klage durch das erstinstanzliche LG, hat das OLG der Berufung des Klägers stattgegeben und die Beklagte zur Auskunft über den Bestand des Nachlasses durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses unter Angabe aller beim Erbfall vorhandenen Sachen und Forderungen des Erblassers sowie aller gegen den Nachlass gerichteten Gläubigerforderungen, die Angabe größerer Schenkungen der letzten 10 Jahre vor dem Eintritt des Erbfalls sowie zur Ermittlung der Werte einzelner Nachlassgegenstände durch Sachverständigengutachten verurteilt.
Rechtswahl des Erblassers war grundsätzlich zulässig
Die gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision der Beklagten hatte beim BGH keinen Erfolg. Der BGH stellte in seiner Entscheidung zunächst klar, dass der Erblasser gemäß Art. 22 Abs. 1 der EU-ErbVO 650/2012 das Recht hatte, für die Regelung der Erbfolge das englische Recht als Recht des Staates zu wählen, dem er im Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte. Daran änderte es auch nichts, dass die EU Verordnung erst nach Errichtung des Testaments (März 2015) im August 2015 in Kraft trat. Da der Erblasser erst nach Inkrafttreten der EuErbVO im Jahr 2018 verstorben ist, blieb es gemäß Art. 83 Abs. 4 EuErbVO bei der im Testament gewählten Rechtswahl.
Englisches Recht nicht anwendbar
Nach Ansicht des BGH ist im konkreten Fall das englische Erbrecht dennoch nicht anwendbar, da es im Sinne von Art. 35 EuErbVO mit dem deutschen „ordre public“ offensichtlich unvereinbar ist. Das englische Recht stehe mit der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Verteilung des Nachlasses in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung im konkreten Fall untragbar wäre und deshalb keine Anwendung finden könne.
Anwendung des englischen Erbrechts untragbar
Gemäß Art. 35 EuErbVO darf der Gerichtsstaat die Anwendung des in zulässiger Weise gewählten Rechts eines anderen EU Staates nur versagen, wenn die anzuwendende rechtliche Bestimmung wesentlichen Grundsätzen und Werten des eigenen materiellen Rechts im Einzelfall konträr entgegensteht und die Anwendung des ausländischen Rechts nach inländischen Gerechtigkeitsvorstellungen schlichtweg untragbar erscheint (BGH, Beschluss v. 14.9.2018, XII ZB 292/15). Dies ist nach der Bewertung des Senats vorliegend der Fall.
Keine gesicherte Mindestbeteiligung am Nachlass nach englischem Recht
Dieses Ergebnis schlussfolgert der Senat aus dem Umstand, dass das englische Recht für Kinder keine unentziehbare, bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung am Nachlass vorsehe. Das BVerfG habe in einer Grundsatzentscheidung bereits im Jahr 2005 klargestellt, dass das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers aufgrund der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG und dem daraus abzuleitenden Grundsatz der Familiensolidarität zu den unabdingbaren Grundsätzen des deutschen Erbrechts gehört (BVerfG, Beschluss v. 19.04.2005, 1 BvR 1644/00).
Pflichtteilsrecht begrenzte die Testierfreiheit
Der BGH betonte, dass nach deutschen Wertvorstellungen das Verhältnis zwischen Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft von gegenseitiger persönlicher und materieller Verantwortlichkeit geprägt sei. Daraus folge dieverfassungsrechtliche Institutsgarantie des Pflichtteilsrechts, die der Testierfreiheit des Erblassers Grenzen setze.
Keine ausreichende Kompensation durch „Inheritance Act“
Gegen dieses Ergebnis spricht nach Auffassung des BGH auch nicht die englische Regelung des sogenannten „Inheritance Act“ (Provision for Family and Dependants). Dieses Rechtsinstitut räumt den Gerichten die Möglichkeit ein, nach richterlichen Ermessen unter Berücksichtigung des Bedarfs des Abkömmlings sowie unter Berücksichtigung des letzten Wohnsitzes des Erblassers für Abkömmlinge eine angemessene finanzielle Beteiligung am Nachlass zu verfügen. Diese von mehreren Unwägbarkeiten abhängige Beteiligung des Abkömmlings am Nachlass ist zu vage, um das Fehlen eines echten Pflichtteilsanspruchs nach deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in angemessener Weise zu kompensieren.
Entstehungsgeschichte der EuErbVO stützt Auslegung des BGH
Schließlich spricht nach Auffassung des BGH auch die Entstehungsgeschichte des Art. 35 EuErbVO für die Rechtsauslegung des Senats. Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag habe nämlich noch eine Regelung vorgesehen, wonach abweichende Regelungen von Pflichtteilsansprüchen nicht per se als Verstoß gegen den „ordre public“ qualifiziert werden dürften. Von dieser Regelung habe man in der endgültigen Fassung aber bewusst Abstand genommen, sodass die jetzige Auslegung des Senats, auch der Entstehungsgeschichte der EU-Verordnung und den Willen des EU-Gesetzgebers gerecht werde.
Hinreichend starke Inlandsbeziehung
Schließlich hatte der Senat keinen Zweifel daran, dass der hier zu beurteilende Sachverhalt eine hinreichend starke Inlandsbeziehung aufweist. Der Erblasser selbst habe über mehr als 50 Jahre seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gehabt, im Inland haben er seine wesentlichen familiären Beziehungen und Bindungen unterhalten.
Revision zurückgewiesen
Nach der Entscheidung des BGH hat der Kläger daher als Pflichtteilsberechtigter gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1, 3 BGB einen Anspruch auf Auskunftserteilung über den Nachlass entsprechend der Entscheidung der Vorinstanz. Der Revision der Beklagten blieb somit der Erfolg versagt.
(Das vollständige Urteil des BGH vom 29.06.2022 zum Az. IV ZR 110/21 kann hier nachgelesen werden)